Kein „Beethoven“ Bernhardiner…
Bei der Vermittlung eines heimatlos gewordenen Bernhardiner-Mischlings namens Barry, fanden Marlies Esser und ihr Begleiter Interessenten, die ein herrliches Umfeld und ideale Haltungsbedingungen zu bieten hatten, aber was so verheißungsvoll begann, endete in einer Katastrophe …
Im Tierschutz findet man allgemein mehr Frauen als Männer. Das liegt sicher nicht nur daran, dass Frauen mitfühlender sind, sondern dass sie in der Regel mehr Zeit haben, sich für etwas zu engagieren. In dem kleinen Tierheim, für das ich regelmäßig Hunde vermittelte, die besonders schwierig und daher schon lange auf ein neues Zuhause warteten, waren Tierheimleitung, ehrenamtliche Mitarbeiter und Spaziergänger durchwegs Frauen. Ich hielt mich selten lange im Tierheim auf, sondern holte mir den betreffenden Zögling zu Spaziergängen oder sonstigen Unternehmen ab, um ihn besser kennenzulernen.
Eines Tages kam im Tierheim ein Mann dazu. Da er vorzeitig pensioniert worden war, verfügte er über viel Zeit. Er hatte schon auf mehreren Hundeplätzen mit Vierbeinern gearbeitet und dadurch ein umfassendes Wissen rund um den Hund und dessen Erziehung. Axel war ein großer, kräftiger Mann. Mitleid war nicht der Grund weshalb er nun regelmäßig ins Tierheim kam. Es machte ihm Freude, mit den unterschiedlichsten Hunden umzugehen, und diese Einrichtung bot ihm dafür große Auswahl.
Als Mann hatte er auch bald eine Vorrangstelle. Wen wundert es, dass er schnell Hahn im Korb war? Er hielt sich gerne da auf, wo er auch gesehen wurde, denn er war ein geselliger Mensch. Er plauderte mit allen und hatte stets einen großen Tierheimhund bei sich, der diese Sonderstellung offenbar auch genoss. Für einen Mann wie Axel ergaben sich viele Einsatzmöglichkeiten, ob es nun darum ging, einen schwierigen Hund abzuholen, oder zum Tierarzt zu bringen. Man war froh und stolz einen Mann im Haus zu haben. Oft legte er sich auch mit dem auserwählten Hund auf den Boden – unter den bewundernden Blicken der Tierheimmitarbeiterinnen.
Er wechselte häufig die vierbeinigen Begleiter und eines Tages sah ich Axel mit einem großen erwachsenen Bernhardiner an sich geschmiegt, in einer Ecke auf dem Boden liegen. In dem großen Bereich waren immer mehrere Personen, da dort das Futter für die Tiere zubereitet wurde.
Wenn ich mich dazu entschied, einen Tierheiminsassen zu einem neuen Zuhause zu verhelfen, setzte ich mich als erstes mit seinem Vorleben auseinander und besuchte, wenn möglich, auch seinen Vorbesitzer. Ich musste eine Beziehung zu dem Hund aufbauen, und umgekehrt war es auch Voraussetzung, dass der betreffende Hund sich fast umbrachte vor Freude über mein Erscheinen. Man hätte dann meinen können, es wäre mein Hund. Es gibt Tierheiminsassen die so schlecht sozialisiert sind, dass sie im Umgang mit Menschen nur wenig Emotionen zeigen. Wenn der Hund sich aber bei mir so freut, sieht der künftige Besitzer schon wie der Hund sich bei ihm zeigen wird. Ich vermied im Umgang mit dem Kandidaten zwar Körperkontakt, denn ich wollte keine falschen Hoffnungen erwecken, aber die Hunde freuten sich trotzdem sehr, wenn wir uns später wiedersahen. Wenn wir uns genügend kennen gelernt hatten, gab ich für diesen Hund eine Anzeige unter der Rubrik „Tiermarkt“ in der Tageszeitung auf. Sobald die Vermittlung erfolgt war und der Glückliche ein Zuhause hatte, zog ich mich zurück.
So wollte ich an einem Wochenende für einen Schäferhund-Mischling wiederum eine Anzeige schalten. Ich sagte im Tierheim Bescheid, damit der Hund an dem Wochenende nicht zu lange mit Spaziergängern unterwegs war, falls ich einen Interessenten an der Hand hatte, der den Hund sofort kennenlernen wollte. Als Axel davon erfuhr, fragte er mich, ob ich bei der Gelegenheit eine Anzeige für Barry, so hieß der Bernhardiner, mit aufgeben könnte. Wir hatten im Haus ja noch einen Telefonanschluss für eine zweite Telefonnummer, hier für die zusätzliche zweite Anzeige für den Bernhardiner. Da ich an solchen Wochenenden ohnehin wegen eventueller Anrufe zu Hause blieb, sagte ich zu. Ich rechnete allerdings kaum mit Anrufen für so einen großen Hund wie Barry. Mir fiel auch gleich ein passender Text für ihn ein, in Anlehnung an den Film „Ein Bernhardiner namens Beethoven“. Ich schrieb: „Lieben sie Beethoven? Wir haben einen, Barry …“ usw.
Das Telefon stand nicht mehr still. Alle Welt wollte Barry, den Bernhardiner haben, und ich war im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos, denn ich wusste von dem Hund fast nichts. Ich rief Axel an, um an ihn die Interessenten weiterzuleiten und wollte von ihm mehr über den Hund erfahren, aber er konnte mir nur sagen, wo er ihn vor drei Wochen abgeholt hatte, und dass er drei Jahre alt wäre. Da das frühere Zuhause von Barry nur zwei Ortschaften von uns entfernt war, machte ich mich gleich auf den Weg zu dem Vorbesitzer des begehrten Hundes, um die Anfragen noch beantworten zu können.
Mich empfing dort ein freundlicher junger Mann, der in einem kleinen Haus mit seiner pflegebedürftigen Mutter wohnte. Er hatte den Hund aus zweiter Hand, von Leuten, die weggezogen waren. Barry war zu einem Pfleger auffällig geworden, als sie durch einen Türdurchbruch aneinander vorbeigingen. Verständlicherweise fühlte sich dieser von so einem großen Hund bedroht. Deshalb holte sich der junge Mann Rat im Tierheim, das dann auch gleich Axel hinschickte. So landete Barry im Tierheim, und aus der Anfrage wurde somit ein neuer Tierheiminsasse, sowie Axels neuer Begleiter im Heim. Nachdem ich erfahren hatte, dass Barrys Erstbesitzer nur einen Katzensprung von uns entfernt wohnte, suchte ich auch ihn auf. Der Hund war bei einer alten Dame im Garten aufgewachsen. Viel konnte sie mir nicht über den Hund sagen, aber ich erfuhr dort etwas ganz Wesentliches: dass er eine Kreuzung aus Bernhardiner und Schäferhund war.
Ich war völlig ernüchtert. Barry war ein Bernhardiner-Schäferhund-Mischling. Ich sagte den Interessenten für den Beethoven-Bernhardiner ab und war zurück auf dem Boden der Tatsachen. Wie habe ich mir das nur so einfach vorstellen können? Ich hatte in meiner Anzeige nichts von einem Mischling gesagt. Das war Vortäuschung falscher Tatsachen. Noch hätte ich mich zurückziehen können, denn da ich noch nicht mit dem Hund umgegangen war, wusste ich auch wenig über seinen Charakter. Als die Tierheimleiterin mich bat, doch etwas für Barry zu tun, sagte ich zu unter der Bedingung, dass ich den Hund nur mit Axel zusammen vermitteln würde. Die Verantwortung wollte ich nicht alleine übernehmen. In das Vorleben von Barry war ich ja schon eingetaucht. Das war eine sehr gute Entscheidung, über die ich noch sehr dankbar sein sollte. Axel war schließlich schon länger Bezugsperson für den Hund und hatte ihn auch mittels Körperkontakt sehr mit sich vertraut gemacht. Ich bat Axel um eine Übergabe des Hundes an mich, denn es musste zu sehen sein, dass auch eine zierliche, weibliche Person wie ich, mit einem Hund seiner Größe umgehen konnte. Axel leinte Barry an, ich begleitete ihn und nach einiger Zeit übergab er mir die Leine um Barry zu führen. Von da an holte ich Barry mehrmals zu einem ausgedehnten Spaziergang ab. Es waren schöne Sommertage, und ich gönnte ihm öfter ein Bad in der Regnitz an der langen Leine.
Nach knapp drei Wochen war es dann so weit, dass ich einen neuen Anlauf nahm und einen geänderten Anzeigentext in die Zeitung setzte. Dieses Mal war es ein freundlicher Bernhardiner der ein Zuhause bei Menschen mit Hundeerfahrung suchte, mit Haus und Garten… Es kamen nicht mehr so viel Anfragen, aber ein Ehepaar ohne Kinder, mit gutem Umfeld und günstigen Lebensbedingungen, erschien mir sehr geeignet. Die Leute hatten zuvor einen großen Mischling gehabt, und waren an den Umgang mit großen Hunden gewöhnt. Ich informierte Axel darüber, dass das Paar etwas weiter weg wohnte und wir mit einer Fahrtzeit von über einer Stunde rechnen mussten.
Wir verabredeten uns mit den Interessenten und schlugen vor, zu ihnen mit dem Hund zu kommen. Ich legte Wert darauf kurz nach Mittag zu fahren, denn ich wusste, dass so eine Vermittlungsfahrt für einen Hund Stress bedeutet, da er Angst vor Veränderungen hat, und wir deshalb nicht so spät am Tag fahren sollten. Barry passte gut in meinen Kombi. Wegen Axels Teilnahme in der Hundeschule kamen wir leider erst am späten Nachmittag weg. Während der Fahrt tauschte ich mich noch mit meinem Begleiter aus. Ich war es gar nicht gewöhnt, gemeinsam eine Vermittlung durchzuführen. Ich bat ihn vorsichtshalber „auf jeden Fall“ sich mit dem Hund nicht auf den Boden zu legen, denn es könnte ja sein, dass der Mann das dann auch ausprobieren würde. Dazu brauchte es aber erst eine gewisse Vertrautheit.
Barry hatte sich während der Fahrt ruhig verhalten. Wir nahmen ihn gleich mit aus dem Auto heraus. Es war ein herrliches Grundstück, ein passender Rahmen für den attraktiven Hund. Wir stiegen die Treppen hinauf und waren geblendet von dem Wasser eines Schwimmbades, eingefasst von einer breiten Ruhefläche aus Marmor. Axel hatte Barry an der Leine und war sprachlos über diesen Anblick an dem heißen Tag. In seiner Begeisterung warf er sich trotz meiner ausdrücklichen Bitte, darauf zu verzichten mit Barry auf den Boden. So liegend begrüßte er das Ehepaar, dessen Kommen er gar nicht bemerkt hatte. Es empfing uns sehr herzlich und freute sich über den Anblick vom Hund und seinem Hundeführer, der inzwischen aufgestanden war.
Die ungewöhnliche Form der Begrüßung hatte etwas Auflockerndes gehabt, obwohl ich innerlich noch fassungslos darüber war. Wir gingen hinein und erfrischten uns etwas. Auch Barry bekam einen großen Napf Wasser und fand genügend Beachtung. Er hatte sich hingelegt und zeigte sich freundlich. Axel berichtete, was er über den Hund wusste, und es kristallisierte sich sehr schnell heraus, dass die beiden Interessenten den Rüden gerne übernehmen würden. Ich schlug einen gemeinsamen Spaziergang vor, denn Axel könnte ihnen sicher noch einige Tipps für den Umgang mit dem neuen Familienmitglied geben.
Es war eine schöne Umgebung und ein lauer Sommerabend. Es herrschte fast eine gelöste Stimmung, nur ich war voll konzentriert, denn ich wusste, welcher Stress diese Situation für einen Hund ist, der instinktiv fühlt, dass es sich hier um ihn dreht. In die Freude, dass sich die Interessenten dafür entschieden hatten, den Hund zu behalten, mischte sich das unangenehme Gefühl, dass Barry eine Trennung bevorstand. Ich führte Regie und schlug unterwegs vor, dass nun der künftige Halter des Hundes die Leine von Barry übernehmen und ihn zurückführen sollte. Als der neue Halter die Leine übernahm, zuckte Barry fast unmerklich zusammen. Es schien niemandem sonst aufgefallen zu sein. Der Mann war kleiner als Axel und wirkte im Umgang mit dem Hund noch etwas steif. Es würde eben etwas Zeit brauchen, bis sich Barry eingelebt hatte.
Wieder zurück im Haus war es Abend. Wir hatten alles besprochen, und Barry sollte gleich da bleiben. Um mehrmals hin- und herfahren, dazu war die Entfernung einfach zu groß. Jetzt mussten noch die Formalitäten erledigt werden. Ich setzte mich hin und begann, den mitgebrachten Vertrag auszufüllen, während die Hausherrin mir gegenüber saß und mir bereitwillig alle notwendigen Daten angab. Ihr Mann streichelte Barry und plauderte mit Axel, als Aufschreie die entspannte Stimmung zerrissen. Barry hatte sich hingelegt und ganz spontan warf sich sein neues Herrchen zu ihm auf den Boden, um mit ihm zu schmusen. Der große Fang des Bernhardiners umschloss den Oberarm des am Boden Liegenden. Der Mann und seine Frau schrien vor Schmerz und Entsetzen. Axel stand fassungslos an der Wand, die Hände vors Gesicht geschlagen, unfähig einzugreifen und den Hund wegzuziehen. Ich saß da wie gelähmt und glaubte zu träumen. Der Hund ließ langsam los. Wie in Trance zerriss ich den Vertrag.
Endlich brachte Axel den Hund unter Kontrolle und zurück ins Auto. Der Notarzt war gerufen worden, und wir warteten noch bis der Verletzte abgeholt und zum nächsten Krankenhaus gebracht wurde. Es war wie in einem bösen Traum. Unfassbar. So ein furchtbares Ende nach einem verheißungsvollen Tag. Wir fuhren schweigend nach Hause, unfähig über das Erlebte zu sprechen.
Am nächsten Vormittag fuhr ich ins Tierheim, um mit Barry noch einen letzten Spaziergang zu machen. Ich wusste, dass dieser Hund nicht mehr zu vermitteln war. Zu schlimm war der Vorfall des vergangenen Tages. Ich war dankbar, dass mich niemand darauf angesprochen hatte. Der Einzige, der den Hund noch hätte retten können, wäre Axel gewesen. Er hätte den Hund übernehmen können, er konnte mit dem Rüden gut umgehen. Barry hatte sich längst an ihn gebunden und der Einzug bei dem Ehepaar wäre für ihn wie ein erneuter Besitzerwechsel gewesen. Dazu war Barry nicht bereit gewesen. Als er bemerkte, dass eine fremde Hand sich nach ihm ausstreckte, wehrte er sich, und biss zu. Für Axel war Barry nur eine Hundebegegnung unter vielen, die leider tragisch endete. Axel wollte wohl ohnehin die Verbindung zu ihm auflösen, weshalb er mich gebeten hatte, Barry zu inserieren.
Mir war das eine Warnung, Tierheimhunde nicht zu stark an sich zu binden und mich künftig bei einer Vermittlung nicht durch ein schönes Umfeld blenden zu lassen, sondern noch mehr darauf zu achten, ob die Mensch-Tier Beziehung passt, und kleinen Zeichen, wie das Zurückzucken von Barry bei dem Leinenwechsel, mehr Beachtung zu schenken.